„Hoffentlich stimmt alles.“ Mit diesem Gedanken erwartete ich am ersten Tag eines Praktikums das Feedback meines Betreuers. Der zeigte mir ein paar Tricks in Sachen Sprache und Aufbau, zweifelte vermutlich an meiner grundsätzlichen Eignung, behielt das aber für sich. Und dann war Feierabend. Gut, dachte ich. Es stimmte tatsächlich alles, aber mein 22 Jahre altes Ich lernte in dieser Woche noch, dass niemand die Richtigkeit meiner Arbeit prüft. Die Fakten müssen stimmen. Man vertraut mir und dem muss ich gerecht werden.
Das ist vielleicht der größte Unterschied zwischen Lernen und Machen. Lernen wir, dann dürfen Fehler passieren. Die Klausur muss nicht perfekt sein, die Hausarbeit darf Verbesserungspotenzial haben. Bei der Arbeit ist das anders. In der Darstellung ist es in Ordnung, wenn andere es besser können. Aber fachlich? Fachlich muss alles sitzen. Das macht am Anfang nervös, später aber selbstsicher: Ich arbeite so sorgfältig, dass mir keine Fehler passieren. Punkt.
Perfektionismus im Studium: Schmerz!
Mehr als 15 Jahre nach jenen ersten Tagen habe ich ein Zweitstudium neben der Arbeit begonnen. Das bedeutet: alle vier Wochen entweder eine Klausur schreiben, eine Hausarbeit abgeben oder eine Präsentation halten. Nach so vielen Jahren Arbeit ist der Zusatzaufwand kein Problem. Organisatorisch ist es jeden Monat eine neue Aufgabe, die mit erledigt wird und für die ich einige neue Tricks gelernt habe.
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Herausfordernd war etwas anderes: der Perfektionismus. Denn wer ein ganzes Berufsleben lang darauf geachtet hat, dass fachlich alles stimmt, ist es nicht mehr daran gewöhnt, Fehler zu machen. Und ein Fehler ist es schon, wenn die Klausur mit 99 Prozent bestanden ist und nicht mit 100.
Diese Art von Perfektionismus ist anstrengend. Nachts um drei weckte mich mein Gehirn damit, dass es seine Bestandteile aufzählte. Als ich eine Woche vor einer Klausur das Inhaltsverzeichnis eines Diagnostik-Katalogs noch nicht auswendig wusste, schwor ich, fürs Studium ungeeignet zu sein. Und als ein Professor mir eine 3,0 für eine Hausarbeit vorlegte war ich überzeugt, dass mit ihm etwas nicht stimmte. An mir konnte es schließlich nicht liegen. Und einmal bekam ich eine 1,3 für eine Klausur und war entsetzt. In diesem Moment wurde mir klar: Mit mir stimmt was nicht. Das kann man auch nicht schönreden.
Zweitstudium: Ich wurde langsam verrückt
Und so sägte das Zweitstudium an meinen Nerven. Nach einem Dreivierteljahr beschloss ich, dass es so nicht weitergehen konnte. Ich arbeitete an meinem Mindset und natürlich änderte sich nichts. Emotional ungünstig war auch, dass der Aufwand funktionierte. Ich quälte mich und erzielte die Bestätigung: Das ist es wert.
Nur stimmt das eben gar nicht. Niemand interessiert sich für die Noten der anderen. Für meine Noten interessiert sich erst recht niemand. Früher als Journalistin und heute als Coach und Beraterin werden meine Fähigkeiten bewertet, nicht meine Zensuren. Und so wurde ich ganz langsam verrückt. Verrückt mit guten Noten, aber eben auch wirklich runter mit den Nerven – dann wieder sehr glücklich. Dann wieder fix und fertig. Und das war es alles nicht wert.
Klausuren: Man will halt gewinnen. Man muss aber nicht
Eine Online-Klausur unterscheidet sich nur wenig von einem Browsergame aus der Zeit der Jahrtausendwende. Man will halt gewinnen. Man muss aber nicht. Und vernünftig betrachtet ist es doch so: Wir lernen nicht für die Noten. Wir lernen, weil wir neugierig sind. Das gilt im Zweitstudium noch viel mehr als im ersten.
Nicht die Klausur ist das Ziel der Mühe, sondern die neuen Fähigkeiten, das neue Wissen. Das sickerte bei mir erst richtig ein, als ich andere Studierende kennenlernte. Menschen im Erststudium lernen viel intuitiver. Kein harter Drill, sondern eine Auseinandersetzung mit dem Stoff, die dem Leben dienen soll. Wer nie dem Perfektionismus der Arbeitswelt ausgesetzt war, der geht ganz anders an Prüfungen heran. Sie sind eine Schwelle, die überwunden werden muss, kein Spiel um Alles oder Nichts. Sie sind der letzte Akt nach dem Lernen. Und Noten? Warum sollten die wichtig sein?
Mein erstes Studienjahr ist zu Ende und etwas in mir hat verstanden, das ich nicht studiere, um kleine Zahlen noch 0,3 Punkte kleiner zu machen. Ich studiere, weil ich gern lerne. Ich studiere, weil ich es für eine wunderbare Freizeitbeschäftigung halte. Wer es aushält, von der Boulderwand zu fallen, der darf auch mittelgute Klausuren schreiben. Das macht mich nicht dümmer. Und ich bin schon fast so weit, mir das selbst zu glauben.