Was ist Schuld? Was bedeutet Verantwortung? Und warum konnte es so weit kommen? Es sind diese drei Fragen, die uns durch den Kopf gehen, nachdem wir den Epilog von „The Darkest Files“ gesehen haben. Und so lange dauert es nicht einmal. Es sind acht bis zwölf Stunden, die man benötigt, um in den nur zwei Fällen als Staatsanwältin Esther Katz die vermuteten Täter vor Gericht zu bringen. Wir hätten uns mehr solcher komplizierten Ermittlungsarbeiten gewünscht. Aber Kostenpflichtiger Inhalt Paintbucket Games ist ein kleines Studio von Jörg Friedrich und Sebastian St. Schulz, wir sehen es darum nach. Denn das, was sie größtenteils geleistet haben, ist erstaunlich.
Die Musik, die Zeitungsüberschriften: Das alles zieht uns in die Nachkriegszeit der 50er-Jahre, als Deutschland unter Bundeskanzler Konrad Adenauer wieder aus den Ruinen aufersteht, die der Zweite Weltkrieg hinterlassen hat. Die junge Bundesrepublik blickt hoffnungsvoll in die Zukunft und arbeitet an der Wiederbewaffnung der neuen Bundeswehr – mit Blick auf den großen Gegner im Osten, der kommunistischen Sowjetunion.
Kaum jemand hat ein Interesse daran, dass zu viel hinterfragt oder infrage gestellt wird. Wie war das damals noch vor elf oder 13 Jahren? Als die Nazis an der Macht waren? Viele wollen nicht daran erinnert werden.
Nicht so Fritz Bauer: Er leitet die Ermittlungen gegen Nazi-Verbrecher. Und der Spieler übernimmt die Rolle der jungen Staatsanwältin Esther Katz, die gegen den Rat ihrer Eltern beginnt, für ihn zu arbeiten. Das alles wird in sehr schön gezeichneten, teils animierten Bildern gezeigt, die mit den Blautönen die Film-Noir-Atmosphäre eines Thrillers erzeugen. Sie sind eindringlich genug, um das Kopfkino anzuwerfen. Es dauert nicht lange, bis man von der Atmosphäre in das Spiel gezogen wird. Und in dem geht es um eins: Nazi-Verbrechen.
Das Spiel zeigt uns nicht die abscheulichen Geschehnisse in Konzentrationslagern, bei denen es keine Frage gibt, wer die Täter sind. Vielmehr geht es um tragische Ereignisse und Todesfälle, zu denen es abseits von Auschwitz und anderen Konzentrations- oder Vernichtungslagern gekommen ist. Ein Erschossener in München im ersten Fall und ein zum Tode verurteiltes junges Mädchen in Braunschweig im zweiten.
Doch waren die Tötungen rechtens, selbst nach den Gesetzen des deutschen Nazi-Reichs? Wer war der Täter? Wie ist es dazu gekommen? Das soll Esther Katz aufklären. Und es ist nicht leicht. Der Spieler muss sehr viel lesen in dem Spiel. Aufmerksam. Sonst fallen einem nicht die entscheidenden Hinweise auf, die in einer Beweiskette münden. Oder Widersprüche in den Aussagen. Aber liegen die an einer verschwommenen Erinnerung, bei der die eigene Fantasie mit den Jahren Lücken geschlossen oder Tatsachen verdreht hat. Oder lügen die Zeugen ganz einfach.
Mehr hat Esther Katz nicht, um zu rekonstruieren, was wirklich geschehen ist. Alte Akten, die zum Teil angesengt sind, Aussagen von damals und eben die aktuellen Darstellungen. Dabei taucht der Spieler in die Erinnerung der Zeugen ein. Dort können wir Gegenstände oder Personen anklicken, um Fragen zu stellen. Zu der Zeit, den Umständen, den Handlungen und Ereignissen. Und wenn jemand tatsächlich etwas sagt, das nicht mit den gesammelten Fakten übereinstimmt, kann man ihn unterbrechen – und ihn oder sie damit konfrontieren. Das hängt aber von der zuvor geleisteten Ermittlungsarbeit ab.
Ermitteln in Erinnerungen
Das ist tatsächlich die stärkste Mechanik im Spiel. Wenn wir mit mehreren Zeugen sprechen, bleibt das Setting zwar gleich, aber die Darstellung der Ereignisse weicht ab. Manchmal wird sie nur um ein paar Details ergänzt, dann wieder gibt es gravierende Unterschiede. Wer war wann wo? Wer hat wann was getan oder gesagt? Welche Aussage stimmt am Ende? Und um es noch etwas schwieriger zu machen: Jede Aussage kann in einem Punkt wahr sein, in einem anderen aber gelogen sein. Der Spieler ist gefangen im Rashomon-Effekt. Benannt nach dem japanischen Film „Rashomon“ (1950) von Akira Kurosawa, in dem Zeugen den Tod eines Samurai jeweils anders darstellen.
Es liegt dann an uns, in der Rolle von Esther Katz aus Akten, Ereignissen und Aussagen die Wahrheit zu destillieren. Und das ist nicht immer einfach. Weil „Darkest Files“ da seinen schwächsten Moment hat. Am Ende geht es darum, in jedem Fall fünf Punkte zu klären und mit Beweisen zu untermauern. Auf einem Plan kann man die Ereignisse nachstellen. Dann muss der Spieler die Schlussfolgerungen ziehen. Es ist aber nicht immer klar, was das Spiel von einem erwartet. In einem Punkt fanden wir unsere Beweise schlüssig, „Darkest Files“ wollte jedoch eine andere Beweisführung von uns. Das wird erst während der Verhandlung klar, wenn man nicht schon vorher die In-Game-Hilfe in Anspruch genommen hat.
Zudem ist das Spiel sehr pedantisch. In einem Punkt haben wir die Mitgliedsnummer eines ehemaligen NSDAP-Mitglieds als Beleg benötigt. Wir haben den Partei-Ausweis genommen. Das wurde aber vor Gericht nicht akzeptiert. „Darkest Files“ erwartete da den Hinweis aus einem bestimmten Dokument, obwohl beides dasselbe belegte. Das sind unnötige Hürden, die einen aus der Immersion reißen. Der Spieler versteht nicht sofort, was nicht stimmen soll, geht noch einmal alles durch und versucht sein Glück. Dafür wird an anderen Stellen das genaue Studium der Akten belohnt, auch wenn man manchmal ein wenig um die Ecke denken muss.
Das hätte eleganter gelöst werden können. Zudem ist die sehr deutsch klingende englische Sprachausgabe gewöhnungsbedürftig. Dafür machen Almut Schwacke als Esther Katz und vor allem Wolfgang Walk als Fritz Bauer einen exzellenten Job, der mit seiner Überzeugung und dem Kampf für Gerechtigkeit für Gänsehaut sorgt.
Eben darum geht es: Gerechtigkeit. Und einen Hauch von Ahnung, wie das autokratische, hierarchische Nazi-Regime das Schlechteste in Menschen geweckt hat. Darum haben die Entwickler auch nicht die offensichtlichen Verbrechen gewählt, sondern Ereignisse, die – so brutal es klingt – alltäglich während der Nazi-Herrschaft erscheinen. Und die Beteiligten waren sich bewusst, dass ihre Handlungen falsch und amoralisch waren. Egal, wie überzeugend unschuldig sie in Vernehmungen klingen. Manche versuchen sich selbst in ein besseres Licht zu rücken, einige klagen andere an. Doch fast alle wollen sich herausreden aus der Verantwortung.
Geschichte als Warnung für unsere Zeit
„Ich habe nur Befehle befolgt.“ Das hört man öfter im Spiel, weil ein hierarchisches System offensichtlich dazu einlädt, die Verantwortung immer eine Stufe höher anzusiedeln. „Ich hatte keine Wahl“, ist die andere Rechtfertigung, mit der Schuldige Taten vor sich selbst rechtfertigen. Aber warum, wenn nicht das eigene Gewissen einen längst schuldig gesprochen hat? Wenn da nicht die Scham wäre angesichts der eigenen Handlungen? Nein, die Täter wussten genau, was sie taten. Und sie haben den einfachen Weg gewählt. So wie viele andere in der Zeit, die mitgemacht haben. Nur so funktionierte das System und war zu furchtbaren Verbrechen fähig. Nur können Systeme keine Täter sein, es sind am Ende Menschen. Und zwar mehr Menschen, als man glauben möchte, die denunziert, gelogen, gefoltert, verurteilt oder geschossen haben.
Nun ist es aus heutiger Sicht leicht, den Kopf zu schütteln und im Brustton der Überzeugung zu sagen, dass man selbst niemals mitgemacht hätte. Das dachten aber viele vor der Nazi-Herrschaft auch. Und eben das ist die erzählerische Stärke des Spiels. Wie leicht jeder ein Täter werden kann, weil er oder sie nicht „Nein“ gesagt hat. Es ist eine Warnung. Nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit der Geschichte. Denn derzeit gewinnen weltweit autokratische, hasserfüllte Gruppierungen an Popularität, während die alten demokratischen Parteien verlieren und demokratische Institutionen geschwächt werden.
Sollten die „Autokraten“ aber einmal an die Macht kommen, dann kann es sehr schnell gehen. Die Angst vor dem Aufbegehren, der Druck, das Akzeptieren: Das alles waren auch in der Nazi-Zeit Schritte zur Täterschaft. Jahre später versucht dann jeder, eben das abzustreiten, zu verleugnen oder zu rechtfertigen. In der Nachkriegszeit würden viele das lieber verdrängen und mit den Trümmern des Krieges begraben. „Darkest Files“ zeigt darum auch, wie das Team um Fritz Bauer angefeindet wird. Esther Katz erhält Drohbriefe, Fenster werden eingeworfen und vor Gericht versammeln sich Leute, die Staatsanwälte als „Verräter“ oder „Lügner“ beschimpfen. Das Interesse an Aufklärung war nicht so ausgeprägt. Vielleicht, weil zu viele sich in der einen oder anderen Form schuldig gefühlt hatten. Vielleicht aber, weil einige noch nicht einmal eine Schuld eingestehen wollten. Das wäre die erschreckendere Erklärung.
Im Vorgänger-Spiel „Through The Darkest Times“ versucht man, Widerstand gegen die Nazis zu leisten. „The Darkest Files“ erscheint am 25. März auf Steam.