Ein Blick aufs Tablet zeigt, was der CE 04 so alles unter der Haube hat: Steuergeräte, Kabelstränge, Steckverbindungen – das ganze Innenleben eines E-Scooters, das sich eigentlich hinter Abdeckungen und Verkleidungen verbirgt, liegt plötzlich offen. „Was wir hier sehen, ist eine virtuelle Bauteileüberlagerung“, erklärt Tom-Li Kämper, Innovationsmanager beim BMW-Werk in Berlin. „Der Kabelbaum, der physisch installiert ist, wird wie mit einem Röntgenblick sichtbar gemacht und in Echtzeit auf das Fahrzeug projiziert.“
Egal wie der 30-jährige Ingenieur sein iPad hält, ob er um den Scooter herumgeht, den Blickwinkel ändert, in das Bild hineinzoomt oder wieder heraus: Immer folgt die digitale Projektion den Bewegungen, legen sich Computergrafiken aller Bauteile passend über das Livebild, das die Kamera einfängt. Es ist ein klassisches Beispiel für Augmented Reality (AR), die Erweiterung der physischen Realität durch Echtzeitinformationen aus dem virtuellen Raum.
Dieser Text ist zuerst in der Ausgabe 7/2023 von MIT Technology Review erschienen. Hier könnt ihr das Heft als pdf-Ausgabe bestellen.
Im BMW-Werk: Mit AR alles auf den ersten Blick klar
Genutzt wird das System etwa für die Qualitätssicherung. „Man kann beispielsweise prüfen: Ist der Kabelbaum so verlegt worden, wie es der Sollprozess vorsieht?“, erklärt Kämper. Das verlangte bisher umständliches Abgleichen mit den Konstruktionsdaten. Mit AR dagegen wird auf den ersten Blick klar, ob alles passt, weil das System alle relevanten Informationen auf dem Display einblendet. „Hier lassen sich Abweichungen deutlich leichter identifizieren, als wenn man den Soll-Ist-Vergleich mit einem separaten Monitor nebendran durchführt“, sagt Kämper.
Mit solchen Anwendungen kommt nun eine Technologie im Unternehmensalltag an, die über viele Jahre hinweg immer nur schemenhaft über den Horizont zu flirren schien – ein Versprechen auf Effizienzgewinne und die Vereinfachung von Abläufen, das lange unerfüllt blieb.
„Seit ich das mache, sage ich immer: Augmented Reality ist die Zukunft. Und wird immer die Zukunft bleiben“, erzählt Thomas Alt und lacht verschmitzt. Der umtriebige Schwabe gilt als einer der prominentesten AR-Pioniere in Deutschland: Schon 1999 forschte Alt für seine Doktorarbeit daran, wie Augmented Reality VW helfen könnte, die Planung von Anlagen zu optimieren. 2003 gründete er mit einem Partner die Firma Metaio, deren Patente das Interesse von Apple weckten. 2015 schluckten die Kalifornier das Startup aus München und integrierten viele Funktionen in iPhone und iPad – darunter die Möglichkeit, Gegenstände zu vermessen, einfach durch das Setzen von virtuellen Punkten im physischen Raum.
Welche die beliebten Geräte für AR-Anwendungen sind
„Im Grunde ist AR mittlerweile in jedermanns Hand“, sagt Alt. „Es gibt viele Anwendungen, bei denen man es gar nicht mehr explizit merkt, dass man AR verwendet.“ Die Kombination aus Kamera, Bildschirm und immer leistungsfähigeren Chips macht Smartphones und Tablets zu beliebten Geräten für AR-Anwendungen – auch in der Industrie.
„Was bisher nicht stattgefunden hat, ist, dass der Kommissionierer, der Montagemitarbeiter acht Stunden lang mit einer Datenbrille unterstützt arbeitet“, räumt Alt ein. Er erklärt das mit „ganz harten technischen Anforderungen“ an die Hardware. Die Brille dürfe nicht schwerer sein als 200 Gramm, „und in diesem Gewicht muss alles drin sein“ – Kameras, Sensoren, Funktechnik, ein hochauflösendes Display und genug Rechenpower, um eine Vielzahl an Bildinformationen in Echtzeit zu verarbeiten.
Viele AR-Brillen zur Auswahl
Neue Brillen kommen dem Ideal näher: Neben Apple, Meta, Microsoft und Magicleap drängen zunehmend asiatische Hersteller wie Lenovo, HTC und Pico – ein Ableger der Tiktok-Mutter Bytedance – auf den Markt. Zielgruppe ist, anders als früher, klar auch die Industrie. Lenovo etwa bewarb seine „ThinkReality A3“-Datenbrille 2023 mit dem Spruch: „Eine neue Vision für Ihr Unternehmen.“
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Tatsächlich signalisieren Firmenkunden vermehrt Interesse an Augmented Reality und der verwandten Virtual Reality. Bei einer Umfrage des Branchenverbands Bitkom gaben im Frühjahr 2023 immerhin 24 Prozent der Unternehmen an, die Zukunftstechnologien bereits zu nutzen. „Wir sehen eine größere Offenheit für AR- und VR-Lösungen und auch eine größere Integration ins Gesamtunternehmen“, berichtet der zuständige Bitkom-Bereichsleiter Sebastian Klöß. Früher sei es häufig bei Pilotprojekten geblieben, nun setze sich mehr und mehr die Erkenntnis durch, dass beide Technologien echten Nutzen bieten können.
Am aktivsten werden AR und VR bisher von Autoherstellern und Firmen aus den Bereichen Fertigung, Planung und Konstruktion eingesetzt. „In letzter Zeit kommen aber immer mehr auch andere Anwendungsfelder hinzu“, berichtet Klöß. Auch die Debatte um das Metaverse habe das Interesse angefacht: „Der Begriff selbst ist für viele immer noch sehr, sehr vage, aber wenn man zeigt, dass AR und VR Schlüsseltechnologien sind, ist für viele ein Bewusstsein entstanden, was tatsächlich schon funktioniert.“

Eine AR-Brille ersetzt eigentlich nur das in der Industrie inzwischen vertraute Tablet als Handheld-Scanner. (Foto: Teamviewer / Jens Lehmkühler)
Datenbrillen in der Logistik
Ein Beispiel dafür sind Assistenzsysteme, wie sie sich bei DHL bewährt haben: In ausgewählten Logistikzentren von Brüssel bis Los Angeles hilft eine Datenbrille Tausenden von Mitarbeitenden dabei, Aufträge zusammenzustellen. Was liegt wo? Wie viele Artikel sollen ins Paket? Wohin soll’s gehen? Alle relevanten Informationen dazu erscheinen direkt vor den Augen der Brillenträger.
„Die Datenbrille ist, vereinfacht gesagt, der Handheld-Scanner, den ich am Kopf trage“, erklärt Hendrik Witt, Produktchef vom Göppinger Dienstleister TeamViewer, der das System entwickelt hat. Doch anders als bei herkömmlichen Scannern bleiben beide Hände frei und die Augen müssen nicht immer wieder das Display suchen, um Informationen zu finden, die jeweils gerade wichtig sind. „Die Fehlerquote verringert sich“, sagt Witt, „und die Unternehmen werden schneller.“ Beim Halbleiterhersteller GlobalFoundries in Dresden hat die Frontline genannte AR-Lösung laut TeamViewer dazu geführt, dass sich die Ausführung von Arbeiten im Lager um 25 Prozent beschleunigt hat; die Fehlerquote sei „auf nahe Null“ gefallen.
AR-Brillen beim Maschinenbauer
Auch bei Coca-Cola in Griechenland ist das System im Einsatz. Dort helfen die Datenbrillen zusätzlich bei der Wartung und Reparatur von Abfüllanlagen des bayerischen Maschinenbauers Krones. Der verspricht Kunden, die einen Service-Vertrag abschließen: „Sofortige Unterstützung durch einen Support-Spezialisten – und zwar so, als ob dieser direkt bei Ihnen vor Ort wäre.“ Funktioniert etwas nicht, könne Krone sich dank TeamViewer drahtlos auf die Datenbrille schalten, erklärt Witt. „Dann sagt man: ,Prüf mal hier, guck mal da, vielleicht müssen wir etwas neu einstellen.‘ Und so können beide gemeinsam daran arbeiten: Der eine hat die Hände, der andere hat das Wissen.“
Virtuell geschult
Während Datenbrillen den Blick auf die physische Umgebung mit Digital-Informationen anreichern, soll Virtual Reality die Anwender möglichst überzeugend in eine Parallelwelt mitnehmen. Auch hier gehört das Anleiten, Ausbilden und Wissenvermitteln zu den wichtigsten Anwendungen – denn im virtuellen Raum können alle, die noch üben sollen, keinen Schaden anrichten. Wenn Auszubildende bei der Deutschen Bahn im virtuellen Stellwerk den falschen Schalter umlegen, muss niemand Angst haben, dass ein Zug entgleist. Wer mit dem Kuka-Simulator lernt, Roboter zu steuern, kann mit einer unglücklichen Handbewegung am Controller niemanden verletzen. Und Gabelstapler-Fahrer, die in VR zu forsch durch digitale Fabrikhallen sausen, können keine Kollegen auf die Forke nehmen.
Oft zeigt sich, dass die simulierten Erlebnisse auch den Lerneffekt steigern, weil sie mehr Eindruck hinterlassen als herkömmliche Schulungen. „Die Fähigkeit von Virtual Reality ist, den Menschen mit seiner Sinneswahrnehmung in eine Umgebung mitzunehmen, die er in diesem Moment nicht physisch erleben könnte“, erklärt Rolf Illenberger, Gründer des Münchner Software-Entwicklers VRdirect. „Wenn ich jemandem den Inhalt mit der VR-Brille vermittle, hat er den ganz anders abgespeichert, als wenn ich ihn mit zehn anderen Leuten in einen Seminarraum stelle.“
Einsatzszenario bei RWE
Besonders deutlich werden die Vorteile simulierter Schulungen, wenn es darum geht, Menschen das Verhalten in kritischen Situationen beizubringen. Im virtuellen Sicherheitstraining beim Energieriesen RWE etwa kann das Kraftwerkspersonal einstudieren, wie es sich im Notfall zu verhalten hat, ohne tatsächlich in Gefahr zu geraten. „Es gibt viele Szenarien, die sich in der Realität schlecht trainieren lassen“, sagt Wolfgang Hohlfeld, Gründer der Unternehmensberatung XReality Consulting. Der Brand in einer Müllverbrennungsanlage beispielsweise lasse sich in einer VR-Umgebung gefahrlos, aber doch so lebensecht nachempfinden, „dass man diesen Adrenalinschub bekommt und dadurch sehr viel besser üben kann, trotz der Stress-Situation ruhig zu bleiben“.

Rolf Illenberger entwickelt VR-Schulungen und ist von den Vorteilen des virtuellen Lernens überzeugt. (Foto: Nina Cottrell /vrdirect)
Nicht zuletzt lockt viele Unternehmen die Aussicht, Kosten zu senken: Schulungen, die bisher für alle Beteiligten zur selben Zeit am selben Ort stattfinden müssen, lassen sich von den Fesseln des physischen Raums befreien, wenn jede und jeder für sich lernt – mit der Möglichkeit, Übungen so oft zu wiederholen wie nötig. Das biete sich besonders für die Vermittlung von Basiswissen an, erklärt Hohlfeld: „Man schickt den Teilnehmern eine Brille mit dem Grundkurs zu, und dadurch fallen potenziell die ersten zwei oder drei Trainingstage weg – was natürlich für die Firma einen wahnsinnigen Gewinn bedeutet.“
Wissensvermittlung durch die Brille
Das gilt besonders dann, wenn sich die Inhalte kostengünstig erstellen lassen, weil sie keine komplexen Simulationen verlangen. „Mit den ersten 30 Leuten, die eine Schulung durchlaufen, habe ich im Prinzip schon einen positiven Business Case“, verspricht VRdirect-Chef Rolf Illenberger. Seine Firma hat sich auf fotorealistische Visualisierungen spezialisiert, die auf 360-Grad-Aufnahmen basieren: Ähnlich wie in Google Street View können Betrachter sich in alle Richtungen umschauen und Klick für Klick durch den digitalen Raum bewegen.
Zu den knapp einhundert Kunden des Startups im Jahr 2023 gehörten zahlreiche Multis wie Siemens, Fraport, Henkel und der Schweizer Lebensmittelriese Nestlé. „Da werden die größten zehn Werke weltweit mit einer Basis-Sicherheitseinweisung in VR ausgestattet“, berichtet Illenberger. Alle neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durchlaufen die virtuelle Schulung, die mit einem Webby-Award ausgezeichnet wurde. Schritt für Schritt spazieren sie in der fotorealistischen Umgebung über das Firmengelände, müssen Fragen beantworten und zeigen, dass sie sich korrekt verhalten, während sie sich umschauen und mit ihrem künftigen Arbeitsplatz vertraut machen können.
In den meisten Fällen reiche die Möglichkeit, sich in alle Richtungen umzuschauen, schon aus, um immersive Erlebnisse zu erzeugen, argumentiert Illenberger. „Bei immer mehr Anwendungen wird erkannt: Ich muss nicht mühsam eine ganze Welt aus 3D-Grafiken erstellen“, sagt er. „Etwas aus der realen Welt zu entlehnen, funktioniert sogar für die Nutzer meistens besser, weil sie abfotografierte Umgebungen aus der eigenen Wahrnehmung kennen.“
Metaverse für die Industrie
Das mag weit entfernt sein von Mark Zuckerbergs Vision eines virtuellen Raums, in dem sich Menschen als Avatare tummeln. Doch die kalifornische Version vom „Metaverse“ stößt in der Industrie ohnehin auf Skepsis. „Das Problem ist, dass das Ganze oft eher als Spielerei gesehen wird“, sagt XReality-Berater Wolfgang Hohlfeld. „Dadurch sind viele professionelle Anwender, wie CIOs von deutschen Mittelständlern, erst mal skeptisch.“ Auch Gabriele Zocchi hält nicht viel vom Metaverse, wie die Firma Meta es sich vorstellt. „So etwas mag für Marketing und Verkaufen funktionieren, aber nicht für Entwicklung und Technik“, glaubt der Entwicklungschef des Münchner Softwarehauses Holo-Light. „Die Industrie hat ganz andere Anforderungen an Dinge wie Sicherheit, Datenzugriff und vertrauliche Interaktionen.“
So hat sich nun, eher halbherzig abgegrenzt, der Begriff vom „Industriellen Metaverse“ eingebürgert. Auch wenn das M-Wort dabei weiterlebt, geht es vor allem um Themen, die das Ingenieursherz höherschlagen lassen: um Planung, Design und Konstruktion; um 3D-Modelle von Fabriken, Anlagen und Gebäuden – sogenannte digitale Zwillinge; und um Effizienzgewinne, wenn Prototypen am Bildschirm entworfen und physisch weiterentwickelt werden können.
„Prototypen erfordern meist Hunderte von Änderungen und Überarbeitungen“, sagt Zocchi. Ob in der Luftfahrt, dem Maschinenbau oder in der Auto-Industrie: ein zeitraubendes, teures Unterfangen, bei dem sich Digitalisierung schnell auszahlt. Deshalb setzen viele Firmen in der Entwicklung längst auf Computer Aided Design. Mit Augmented Reality können die dabei entstehenden CAD-Modelle in die physische Welt übertragen werden, um zu prüfen, ob alles passt.

Mit AR-Technik lassen sich beliebige Schnittebenen durch das Hologramm eines Raketentriebwerks ziehen, die den Blick auf das Innere des Triebwerks freigeben. (Bild: Holo-Light)
„Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten an zwei Bauteilen, deren Bohrungen sich überlagern müssen“, erklärt Zocchi, „und das eine liegt physisch vor Ihnen, das andere existiert nur als Hologramm.“ Der Blick durch die Brille führt vor Augen, wo sich womöglich Probleme verbergen – und bei Bedarf können die Designer im Handumdrehen das CAD-Modell ändern und zurück an die Brille senden; selbst wenn sie Hunderte von Kilometern entfernt am Schreibtisch sitzen, während das übrige Team in der Fabrik steht. „Nicht alle Prozesse lassen sich damit abbilden“, räumt Zocchi ein. „Aber die Entwicklung lässt sich trotzdem massiv vereinfachen.“
Was für die Anwendung der AR-Brillen noch fehlt
Trotz aller Fortschritte bleiben reichlich Herausforderungen. Eine der größten betrifft fehlende Standards. „Der Markt ist unglaublich fragmentiert“, klagt Zocchi. Ob Meta, Microsoft, Apple, HTC, Magic Leap oder Lenovo: Alle setzen auf eigene Dateiformate und proprietäre Technologie – was Software-Anbieter zwingt, das Problem selbst zu lösen. „Wir versuchen die Quadratur des Kreises“, sagt VRdirect-Gründer Illenberger. „Wir versuchen, die Ökosysteme, die an sich nicht miteinander kompatibel sind, so in den Griff zu kriegen, dass unsere Kunden dasselbe Projekt in der gleichen Qualität auf verschiedenen Geräten nutzen können.“

Thomas Alt gilt als Pionier der AR in der Industrie und versucht nun, smarten Brillen das Sehen beizubringen. (Foto: Daniel Hoelter)
Hinzu kommt, dass die meisten Brillen für den Massenmarkt konzipiert sind und sich deshalb nur bedingt für Industrie-Anwendungen eignen. „In einer Fabrik kann ich nicht mit Brillen arbeiten, an denen Kabel hängen“, erklärt Zocchi. „Das ist eine große Einschränkung bei vielen Industrie-Anwendungen.“ Deshalb empfehle seine Firma für AR-Projekte vor allem Microsofts Hololens-Brille: „Die war von Anfang an drahtlos konzipiert und bekommt verlässlich Software-Updates, auch nach Jahren noch.“ Allerdings hat Microsoft die Sparte inzwischen eingestellt und will sie nur noch bis 2027 unterstützen.
Zocchi hat, wie viele andere, keine Zweifel, dass für die Industrie der größte Nutzen in Augmented Reality liegt. „Virtual Reality entführt Sie aus Ihrer Umgebung“, sagt er. Für manche Anwendungen mag das ideal sein – „Tatsache ist aber, dass wir in der physischen Welt leben und ständig mit Dingen interagieren, die wir betrachten oder anfassen müssen. Und darin liegt der große Vorteil von Augmented Reality.“
Bilderkennung und KI für die Datenbrille
Nun muss die Technologie nur noch lernen, sich die Welt der Menschen schlauer zu erschließen, idealerweise sogar zu begreifen, was sie vor sich hat. Genau daran arbeitet AR-Pionier Thomas Alt mit seinem neuen Startup Ramblr. „Wir versuchen, Smart Glasses das Sehen beizubringen“, erklärt Alt. Den Schlüssel dazu sieht er in Bilderkennung und Künstlicher Intelligenz, die für spezielle Anwendungsfälle trainiert wird. „Das System erfasst dann zunächst die Umgebung ganz generell, und wir reichern das KI-Modell so an, dass es zum Beispiel nur die Siemens-Pumpen in der Industrieanlage erkennt und entsprechende Informationen bereitstellen kann.“
So ließe sich der Nutzen von AR-gestützten Assistenzsystemen noch deutlich ausweiten, glaubt Alt. „Solche Systeme sind besonders vorteilhaft, wenn man hohe Wissensanforderungen hat und sehr wenig Leute, die dieses Wissen mitbringen.“ Für ein Land wie Deutschland, das unter chronischem Fachkräftemangel leidet, womöglich ein Weg, Menschen für spezielle Aufgaben zu qualifizieren, ohne dass sie eine jahrelange Ausbildung brauchen.
Apples Vision Pro sieht Alt als „klares Bekenntnis zu Augmented Reality“ – auch wenn der Tech-Gigant den Begriff scheut. Beim Marketing mag Apple virtuelle Erlebnisse und Büroarbeit in den Mittelpunkt stellen; preislich passt die Datenbrille mit gut 3.500 Euro wohl eher zum Budget experimentierfreudiger Firmenkunden.
Mit der Brille auf der Nase in die Zukunft spazieren?
Vielleicht braucht es sogar eine Handvoll Feenstaub aus Kalifornien, um Millionen von Menschen das Verschmelzen von Wahrnehmungen, die Auflösung der bisher bekannten Wirklichkeit näherzubringen – Menschen, die bei Technik normalerweise keine leuchtenden Augen bekommen, nun aber mit der Brille auf dem Kopf in die Zukunft spazieren sollen.
Psychologie jedenfalls spiele für die Akzeptanz von AR und VR eine große Rolle, glaubt Alt: „Warum setzt es sich auf dem Smartphone durch? Weil die Leute diese Geräte aus ihrem Alltag kennen.“ Die Datenbrille dagegen sei für viele ungewohnt – selbst wenn sie die Arbeit erleichtern mag. „Deshalb glaube ich, dass wir in der Industrie erst dann einen Durchbruch sehen werden, wenn sich diese Systeme auch im Consumerumfeld durchsetzen“, sagt Alt, der nach der Metaio-Übernahme von 2015 bis 2018 selbst bei Apple tätig war.
Im Berliner Motorradwerk von BMW kennen die Verantwortlichen diesen Effekt. Auch wenn Hololens-Brillen bereitliegen, um bei der AR-Diagnose noch anschaulicher zu machen, wo sich Schalter, Kabelstränge und Verbindungen im Inneren des CE 04 verbergen – oft gehe der Griff weiterhin zum gewohnten Tablet, berichtet Innovationsmanager Jonas Pramono. „Das ist ja dieses klassische Thema: Wie wird etwas Neues angenommen? Die Brille ist für viele erstmal befremdlich, das Tablet nicht. Das kennt jeder aus seinem Alltag. Wir verwenden beide System für verschiedene Anwendungsfälle.“
Dieser Artikel stammt von Karsten Lemm. Er ist freier Autor für MIT Technology Review.