
Eine Grundfreiheit unter Druck
Die europäische Dienstleistungsfreiheit zählt zu den tragenden Säulen des Binnenmarkts. Sie garantiert, dass Unternehmen ihre Dienstleistungen in allen EU-Mitgliedsstaaten anbieten dürfen – ohne unnötige Hürden oder nationale Sonderregelungen. Was in der Theorie als freiheitliches Grundprinzip gedacht ist, stößt in der Praxis jedoch regelmäßig an seine Grenzen.
Besonders deutlich zeigt sich das im digitalen Raum. Online-Dienstleister, die innerhalb der EU operieren, sehen sich zunehmend mit fragmentierten nationalen Vorschriften konfrontiert – trotz gemeinsamer Gesetzesbasis. Die Frage, wie viel nationale Regulierung noch mit europäischer Freiheit vereinbar ist, rückt damit verstärkt in den Fokus juristischer und politischer Diskussionen.
Der EuGH-Fall C-440/23 – Ein Präzedenzfall mit Signalwirkung?
Am 9. April 2025 wurde am Europäischen Gerichtshof ein Fall verhandelt, der genau diese Problematik auf den Punkt bringt. In der Rechtssache C-440/23 ging es um die Frage, ob ein Dienstleistungsanbieter aus einem anderen EU-Mitgliedsstaat gegen nationales Recht verstoßen hat, weil er seine Angebote ohne lokale Zulassung digital verfügbar machte – obwohl er in seinem Heimatland über eine gültige Lizenz verfügte.
Der Kläger berief sich dabei auf die europäische Dienstleistungsfreiheit gemäß Artikel 56 AEUV. Das nationale Gesetz hingegen sah verpflichtende Registrierungssysteme und Sperrmechanismen vor, die auf nationaler Ebene durchgesetzt wurden – darunter das umstrittene System „OASIS“. Die Spannung zwischen europäischen Prinzipien und nationalstaatlicher Regulierung wurde damit zum juristischen Brennpunkt.
Zwischen Datenschutz und Schutzpflicht – Das Dilemma nationaler Sperrsysteme
Die Idee hinter nationalen Kontrollmechanismen wie OASIS ist nicht grundsätzlich verkehrt. Sie sollen dem Schutz bestimmter Bevölkerungsgruppen dienen, z. B. dem Schutz vor übermäßigem Konsum oder ungewollter Inanspruchnahme digitaler Angebote. In der Praxis aber werfen sie viele Fragen auf – insbesondere dann, wenn sie die Nutzung legaler Angebote aus anderen EU-Ländern unterbinden.
Für Nutzer entsteht so der Eindruck einer digitalen Mauer: Obwohl ein Anbieter innerhalb der EU rechtlich korrekt agiert, kann sein Dienst in Deutschland durch technische Sperren unzugänglich gemacht werden. Dabei geht es nicht nur um Bevormundung, sondern auch um die Frage, wie viel Einfluss nationale Stellen auf grenzüberschreitende Dienstleistungen überhaupt haben dürfen.
Was der EuGH (nicht) entschieden hat
Obwohl viele Beobachter auf ein klares Signal des EuGH hofften, blieb eine eindeutige Entscheidung vorerst aus. Der Gerichtshof befragte die Beteiligten umfassend, vertagte aber die Schlussanträge auf Juli 2025. Damit bleiben viele zentrale Fragen zunächst unbeantwortet:
- Darf ein Mitgliedsstaat einem Dienstleister aus einem anderen EU-Land den Marktzugang verwehren, obwohl dieser dort lizenziert ist?
- Gelten zentrale Registrierungssysteme als legitime Schutzmaßnahme oder als Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit?
- Und vor allem: Wie weit darf nationale Regulierung in einem digital vernetzten Binnenmarkt überhaupt noch greifen?
Für Unternehmen bedeutet diese juristische Unklarheit vor allem eines: Planungsunsicherheit.
Die Sicht der Verbraucher – Zwischen Schutz und Entscheidungsfreiheit
Für viele Nutzer bedeutet das Thema mehr als nur juristische Theorie. Es geht um die Frage, welche digitalen Dienste man nutzen darf – und unter welchen Bedingungen. Die verpflichtende Teilnahme an Kontrollsystemen wie OASIS kann aus Nutzersicht schnell zur Hürde werden: sei es aus datenschutzrechtlichen Bedenken, oder weil man sich schlicht nicht registrieren möchte.
Hier kommt die europäische Perspektive ins Spiel. Denn Anbieter aus anderen EU-Ländern, die keinen Zugriff auf nationale Sperrsysteme haben oder deren Angebote in ihrem Herkunftsland legal sind, bieten oft eine alternative Nutzungsstruktur. Viele Nutzer fragen sich deshalb: Warum darf ich in einem EU-Land auf ein legales Angebot zugreifen – in einem anderen aber nicht?
In diesem Zusammenhang zeigt ein Blick auf andere Plattformen, wie unterschiedlich mit der OASIS-Registrierungspflicht umgegangen wird.
wette.de hat eine ausführliche Übersicht über Online-Angebote ohne OASIS-Registrierungspflicht zusammengestellt, die verdeutlicht, wie Anbieter mit europäischen Lizenzen auf die Problematik reagieren.
Einheitlicher Markt, unterschiedliche Regeln?
Der Fall vor dem EuGH steht exemplarisch für ein größeres strukturelles Problem: den Bruch zwischen dem europäischen Anspruch und nationaler Realität. Zwar gibt es zahlreiche Richtlinien, die den digitalen Binnenmarkt stärken sollen – von der DSGVO über den Digital Services Act bis hin zur Dienstleistungsrichtlinie.
Doch in der Praxis bleibt vieles Stückwerk. Nationale Interessen, politischer Druck und uneinheitliche Auslegung führen immer wieder dazu, dass europäische Grundfreiheiten unterlaufen oder eingeschränkt werden. Für Nutzer entsteht so ein Flickenteppich digitaler Regeln – abhängig davon, von wo aus sie einen Dienst nutzen oder auf welchen Server sie zugreifen.
Warum dieser Fall weit über die Branche hinausreicht
Auch wenn der aktuelle Fall aus einem spezifischen Umfeld stammt, reicht seine Bedeutung weit darüber hinaus. Denn die zentralen Fragen gelten für viele digitale Geschäftsmodelle: Video-Plattformen, Streaming-Angebote, Hosting-Dienste, Cloud-Anwendungen und sogar E-Learning-Anbieter können betroffen sein, wenn nationale Systeme bestimmte Inhalte oder Anbieter ausschließen.
Es geht letztlich um die Kernfrage: Gilt die Dienstleistungsfreiheit im digitalen Raum wirklich für alle – oder nur unter bestimmten Vorbehalten? Und wenn Letzteres zutrifft, welche Rolle spielt dann noch der europäische Binnenmarkt?
Der digitale Binnenmarkt steht am Scheideweg
Die Entscheidung des EuGH wird mit Spannung erwartet. Nicht nur, weil sie den konkreten Fall klärt, sondern weil sie als Präzedenzurteil eine klare Linie in einer zunehmend unübersichtlichen Rechtslage ziehen könnte.
Ob und wie die europäischen Prinzipien in die Realität des digitalen Zeitalters übertragen werden können, hängt maßgeblich von dieser juristischen Weichenstellung ab. Für Nutzer, Anbieter und politische Akteure wird diese Entscheidung zeigen, ob Europa digitale Freiheiten nur verspricht – oder auch wirklich umsetzt.