Denn Gaia wollte nicht gehen. Die Sonde war so gebaut, dass sie selbst aus Störungen heraus immer wieder zurück in den Betrieb finden konnte. Ein Sicherheitsnetz aus Redundanzen, Schutzmechanismen und intelligentem Fehlermanagement hielt sie über viele Jahre stabil – und machte sie nun, am Ende, zu einer technikgewordenen Kämpferin gegen das Abschalten.
Eine Sonde mit Überlebensinstinkt
Gaia war darauf vorbereitet, Strahlungsstürmen zu trotzen, Mikrometeoriten zu überstehen und selbst Kommunikationsabbrüche mit der Erde zu überbrücken. Sie wurde konstruiert, um Fehler zu erkennen, sich selbst neu zu starten und ihre wissenschaftlichen Aufgaben unbeeindruckt fortzusetzen.
Genau das erschwerte ihren letzten Flugbefehl: Das Kontrollteam musste ein sorgfältig geplantes Abschaltszenario umsetzen, das die Sonde systematisch in den Ruhestand zwingt – gegen ihren ursprünglichen Willen, weiterzumachen.
Am 27. März führten die Ingenieur:innen deshalb ein letztes Schubmanöver durch, das Gaia vom Lagrange-Punkt L2 wegführte und auf eine stabile Umlaufbahn um die Sonne brachte. Von dort aus wird sie der Erde für mindestens die nächsten hundert Jahre nicht näherkommen als zehn Millionen Kilometer. Doch das war nur der Anfang des eigentlichen Abschieds.
Subsystem für Subsystem wurde deaktiviert. Kommunikationsmodule, wissenschaftliche Instrumente, sogar das zentrale Rechensystem – alles wurde abgeschaltet. In einem letzten Schritt beschädigten die Verantwortlichen gezielt die Bordsoftware, indem sie zentrale Start- und Kontrollroutinen unbrauchbar machten. So wurde sichergestellt, dass Gaia sich nicht eines Tages doch wieder in Betrieb setzt, falls ihre Solarpaneele zufällig ausreichend Sonnenlicht einfangen sollten. Gaia wurde also ganz bewusst stückweise zum Schweigen gebracht.
Bereits in den letzten Tagen vor der finalen Abschaltung nutzte das Esa-Team zudem die Gelegenheit, Gaias Mikroantriebssystem unter verschiedenen Bedingungen zu testen. Die Ergebnisse sollen in die Planung künftiger Missionen einfließen – etwa der Gravitationswellen-Sonde LISA, die auf ein ähnliches Antriebskonzept setzt.
Gaia-Abschied macht Betriebspersonal sentimental
„Raumsonden wollen nicht abgeschaltet werden“, sagt Esa-Raumsondenoperator Tiago Nogueira und ergänzt: „Gaia war darauf ausgelegt, selbst aus den meisten Fehlerzuständen zurückzukehren. Deshalb mussten wir viele dieser Schutzmechanismen gezielt außer Kraft setzen.“
Raumfahrt-Ingenieurin Julia Fortuno, die bei der Deaktivierung der Prozessor-Module eine zentrale Rolle spielte, zeigte sich regelrecht emotional: „Ich habe Gaia über fünf Jahre begleitet. Es war ein schwerer, aber bedeutungsvoller Moment.“
Dieser Bedeutung hat die Raumfahrtagentur auch damit Tribut gezollt, dass sich rund 1.500 Mitarbeiter:innen, die über Jahre hinweg an der Mission beteiligt waren, in der Raumsonde verewigen durften: Ihre Namen wurden in Form von Daten in Gaias Bordcomputer geschrieben – als Teil des Abschiedsrituals.
Während Gaia nun weiter durch das All treibt, trägt sie auf diese Weise ein Stück ihrer Geschichte mit sich. „Wir werden Gaia nie vergessen – und Gaia wird uns nie vergessen“, sagte ESA-Missionsleiter Uwe Lammers.
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Gaia lieferte Daten, die das Bild unserer Galaxie verändert haben
Seit dem Start im Jahr 2013 hat Gaia kontinuierlich Daten gesammelt, die unser Verständnis der Milchstraße und darüber hinaus grundlegend verändert haben. Die Raumsonde lieferte die bislang präziseste multidimensionale Karte unserer Galaxie. Über 1,8 Milliarden Sterne wurden vermessen – einschließlich ihrer Positionen, Bewegungen, Entfernungen, Temperaturen und chemischen Zusammensetzungen.
Dabei wurden unter anderem Hinweise auf frühere Kollisionen der Milchstraße mit Zwerggalaxien entdeckt. Gaia ermöglichte die Identifikation neuer Sternhaufen, zeichnete komplexe Bewegungsmuster im galaktischen Halo auf und trug zur Entdeckung mehrerer Exoplaneten und schwarzer Löcher bei.
Auch Gravitationslinseneffekte konnten sichtbar gemacht werden – ein Meilenstein für die präzise Kosmologie. Gaias Datenveröffentlichungen beeinflussen heute nahezu alle astrophysikalischen Disziplinen, sagt Projektwissenschaftler Johannes Sahlmann von der Esa.
Die vierte große Datenveröffentlichung ist für 2026 angekündigt. Der finale Gaia Legacy Catalogue, der frühestens Ende 2030 erscheinen soll, wird der Wissenschaft voraussichtlich über Jahrzehnte hinweg neue Impulse liefern. Derzeit gilt der 2022 veröffentlichte Data Release 3 mit seinen hochauflösenden Datensätzen bereits als eine der bedeutendsten Ressourcen der modernen Astronomie.
Gaia lebt weiter – in Missionen, Technologien und Erinnerungen
Auch wenn Gaia nun verstummt ist, bleibt die Raumsonde in vielerlei Hinsicht präsent. Ihre präzisen Sternenkataloge werden noch lange als Grundlage für andere Weltraummissionen dienen. So nutzt etwa die Esa-Raumsonde Euclid, gestartet 2023, Gaias Daten zur exakten Ausrichtung ihrer Instrumente im All.
Auch die kommende Exoplanetenmission PLATO, ebenfalls unter Leitung der Esa, greift auf Gaias Sternendaten zurück – sowohl zur Charakterisierung von Zielsternen als auch zur Validierung potenzieller Neuentdeckungen. All das macht deutlich: Gaia hinterlässt nicht nur eine gewaltige Datenbasis, sondern eine wissenschaftliche Infrastruktur, auf der viele künftige Projekte aufbauen werden.
Zum Schluss ein Tipp für Datenenthusiast:innen: Der Zugang zu Gaias Daten ist öffentlich. Wer damit arbeiten oder einfach nur stöbern möchte, findet alles im Gaia-Archiv.
Gaia, LISA und andere Missionen bei t3n
t3n hat in der Vergangenheit regelmäßig über Gaia und verwandte Weltraummissionen berichtet. Wer tiefer einsteigen möchte, findet hier eine Auswahl weiterführender Beiträge: